Freitag, 27. September 2013
Sie war dann mal weg
Lionslie meinte eine Kurzgeschichte sei nicht schlecht und naja das is daraus geworden:

Er sieht sie dann noch ein letztes Mal; die Tasche schneidet in ihre spitzen herausstechenden Schultern, die sie immer ein wenig hochgezogen hat, so als würde sie eine Schutzhaltung gegenüber der Außenwelt einnehmen, die inzwischen gewohnheitsmäßig in ihrer Körperhaltung verankert ist.
Ihm ist aufgefallen, dass sie die Ärmel ihres Pullis immer mehr nach unten zieht, und sie mit ihren kleinen schmalen Fingern verknotet, die sich begierig um den Stoff schlingen.
Das linke Bein trägt ihr ganzes Gewicht, wobei es lächerlich ist zu sagen, es sei ein Gewicht gewesen, dieses Bündel Haut und Knochen, das von den Passanten immer wieder einen mitleidigen Blick erntete.
Rückblickend sah er dies alles nicht, er sah nicht die feinen Details und er hatte schon zu oft sich diese kleinen Kratzer an der Oberfläche versucht schönzureden und es funktionierte auch wie an jedem anderen Tag, an dem sein Blick kurz über ihre schmale Silhouette streifen und am Fahrplan des Busses schließlich hängenblieb.
Sie wirkte immer wie ein kleines, aber nicht zu vernachlässigendes Requisit abseits der Menge, das ihm mehr bedeutete, als er sich bewusst war und an dem Tag, an welchem es nicht mehr an seinem Platz war, begann er es zu vermissen.
Anfänglich war es ein Kribbeln, wenn er um die Ecke bog, dieser Nervenkitzel, ob sie doch noch neben dem Bushäusschen stand; zeitweise hatte eine Zigarette den Ärmel abgelöst, und als dieses Gefühl allmählich verflog, vergaß er Stück für Stück, ihr scheues Lächeln, wenn er sie zu lange ansah, ihre zerbissenen Lippen, welche eine Schicht Lipgloss versuchte zu retuschieren, die weiten Pullis, die sie immer wieder herunterzog und ihren federnden Gang, wenn sie den Bus nahm, der in eine andere Richtung wie der seine fuhr.
Diese kleinen Puzzleteilchen konnten anfänglich noch von seiner Sehnsucht nach ihren Grübchen beim Lächeln zusammengehalten werden, doch wer gedenkt schon einer verkümmerten Blume?
Und wer kann schon den Zusammenhang der gellenden Sirenen des Notwagens mit dem Verschwinden von ihr deuten.
*
Sie sieht ihn dann noch ein letztes Mal; er schaut leicht betreten auf seine Nikes, wendet seinen Blick, der wie immer einen kurzen Umweg zu ihr nimmt, dem Fahrplan zu.
Sie weiß, dass er sich darüber ärgert, dass er im Regen stehen muss, das Häusschen ist hoffnungslos überfüllt.
Von einer Gruppe Mädchen wird er wohlwollend betrachtet, innerlich hat sie ihnen schon längst den Stinkefinger gezeigt.
Als ihr Bus kommt, der einen Schwall Wasser mit sich reißt, weicht sie kurz zurück, zieht die Ärmel ihres ausgeleiherten Pullovers schnell herunter und versucht einen Regentropfen wegzublinseln, der sich in ihren Wimpern beharrlich verfangen hat.
Dann steigt sie ein und lehnt den Kopf an die Scheibe, an der sich endlose Schlieren von Regentropfen hinabziehen, zusammenlaufen und sich im Nirgendwo verlieren.
Sie hatte sich vorgenommen ihm vielleicht einmal zu winken, schiebt ihre Untätigkeit aber darauf ab, dass sich ihre Finger in den Ärmeln verfangen haben.
*
Man kann es ihm nicht zum Vorwurf machen, dass er von den Tabletten, Scherben und Kratzern in ihrem Leben nichts ahnte und ihren Tod als einen Wohnortwechsel interpretierte.

Eure Stells☆